Ein Gespräch Marcel Reich-Ranicki über das schwierige Verhältnis zwischen deutscher und polnischer Literatur

MRR+UW-07webWo man Dichter wie Könige bestattet
Ein Gespräch Marcel Reich-Ranicki über das schwierige Verhältnis zwischen deutscher und polnischer Literatur

Polen ist das größte und bevölkerungsreichste Land, das 2004 der EU beigetreten ist. Marcel Reich-Ranicki wurde 1920 im polnischen Włocławek geboren, verbrachte seine Jugend in Berlin und lebte nach der Deportation durch die Nazis 20 Jahre in Warschau. Neben anderen Auszeichnungen erhielt er den Samuel-Bogumił-Linde-Preis, der für Verdienste um die deutsch-polnischen Literaturbeziehungen verliehen wird.

Uwe Wittstock: Polen und Deutschland sind Nachbarländer, deren Vergangenheit, milde gesagt, sehr konfliktträchtig war. Seit 2004 sind sie gemeinsam unterm Dach der EU zu Hause. Wird dieser Beitritt das Verhältnis Polens zur Deutschland verändern?
Marcel Reich-Ranicki: Ich verstehe von Politik wenig. Ich bin einmal in meinem Leben einer Partei beigetreten, gleich nach dem Krieg, und das war doch ein Fehler. Seither nehme ich zu politischen Fragen öffentlich nicht Stellung. Wenn Sie wissen wollen, was sich durch diesen Beitritt im kulturellen Verhältnis der beiden Länder ändern wird, so antworte ich: Als Kritiker bin ich für die Literatur der Vergangenheit und der Gegenwart zuständig. Nicht für die der Zukunft. Dass ich mich hier auf Prophezeiungen einlasse, ist ausgeschlossen.
Wittstock: Bleiben wir bei der kulturellen Vergangenheit: In Ihrem Buch „Erst leben, dann spielen. Über polnische Literatur“ (Wallstein Verlag) schreiben sie, die Polen hätten lange unter der Teilung ihres Landes gelitten und in den Schriftstellern die Repräsentanten ihrer Nation gesehen. Gibt es da nicht Ähnlichkeiten zur deutschen Situation? Im 18. und 19. Jahrhundert litten die Deutschen unter der Kleinstaaterei, bis vor 15 Jahren unter der Teilung zwischen Bundesrepublik und DDR. In beiden Phasen gab es repräsentative Schriftsteller, von denen sich viele den Zusammenhalt der Kulturnation erhofften.
Marcel Reich-Ranicki: Das ist schon eine Parallele – doch sie gilt nur bedingt. Die Polen haben in politischer Hinsicht von den polnischen Schriftstellern viel mehr erwartet als die Deutschen je von den ihrigen erwarteten. Polen war fast 150 Jahre lang nicht nur geteilt, sondern unter den Nachbarländern (darunter Preußen) aufgeteilt. Es war politisch nicht existent. In dieser Situation wurden die Schriftsteller für die Polen zu den wichtigsten Repräsentanten der Nation. Es gab keine Minister, keine Präsidenten, keine Könige. Die Einzigen, die das Leiden und die Hoffnung der Nation ausdrücken konnten, waren die Schriftsteller. Also haben sie ihre größten Schriftsteller Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki schließlich bestattet wie die Könige: In der königlichen Gruft im Schloss Wawel in Krakau. Diesen beiden großen Romantikern ist (zusammen mit einem dritten) im Polnischen eine besondere Berufsbezeichnung vorbehalten. Sie werden „Wieszcz“ genannt, was so viel bedeuten wie „Die Seher“.
Wittstock: Wo sehen Sie den Unterschied zur deutschen Situation?
Reich-Ranicki: In Deutschland gab es im 18. und 19. Jahrhundert keinen Mangel an deutschen Fürsten, sondern eine Überfülle. Bis vor 15 Jahren gab es zwei deutsche Länder mit zwei Regierungen. In dieser Situation gerieten manche Schriftsteller in die Rolle von Identifikationsfiguren, die den Zusammenhalt der Kulturnation garantieren sollten. Aber das ist nicht mit der Rolle zu vergleichen, die Schriftsteller für die Polen spielten.
Wittstock: Gibt es nennenswerten Einfluss der polnischen Literatur auf die deutsche? Oder der deutschen auf die polnische?
Reich-Ranicki: Nein, was die polnischen Schriftsteller geschrieben haben, war den deutschen meist herzlich egal. Und andersrum ist es etwas ähnlich: Die Schriftsteller Polens haben sich immer stark mit dem beschäftigt, was gerade in Frankreich geschrieben wurde und was die Literaten dort diskutierten. Viele polnische Autoren lebten in Paris im Exil. Paris war lange Zeit das Zentrum der polnischen Kultur.
Wittstock: Als Sie in Polen lebten: Wie groß war das Interesse polnischer Leser an deutscher Kultur?
Reich-Ranicki: Als ich 1938 nach Polen kam, kannte dort – außer ein paar Germanisten – niemand die Namen Fontane, Raabe, Storm oder Gottfried Keller. Die einzigen, die man kannte, waren Goethe, Schiller, Heine, während Hölderlin, Herder, Eichendorff und fast die ganze deutsche Romantik dort unbekannt waren. Gelesen wurden vom großen jüdischen Publikum in Polen deutsche Romanciers wie Feuchtwanger, Werfel, Remarque, Wassermann, Stefan Zweig. Das geistige Zentrum der nicht-jüdischen Polen war Paris, die geistigen Zentren der polnischen Juden waren Berlin und Wien. Ich habe dann in den fünfziger Jahren, in meiner Zeit als Lektor und Kritiker in Polen, dabei geholfen, einige deutsche Erzähler des 19. Jahrhunderts erstmals zu übersetzen und zu publizieren. Doch die polnischen Leser interessierten sich, ebenso wie ihre Schriftsteller, weit mehr für die französischen Autoren von Balzac bis Proust. Nein, die Polen haben die deutsche Literatur nie ins Herz geschlossen.
Wittstock: Woher die Begeisterung der Polen für die Franzosen?
Reich-Ranicki: Es ist immer leichter, Sympathie für ein Volk zu empfinden, zu dessen Land es keine gemeinsame Grenze gibt. Meist gibt es dann nämlich auch keine politischen Konflikte. Mit Preußen und Russland hatten die Polen immer wieder Konflikte. Wenn das Verhältnis der Polen zu diesen Ländern nicht unbeschwert ist, darf man sich darüber also nicht wundern. Zudem: der Franzose Napoleon hat viel für Polen getan. Und er hat Krieg gegen die Deutschen und die Russen geführt – das trug ihm in Polen viele Sympathien ein. Das alles wirkt fort bis heute. Sie dürfen nicht vergessen, im Zweiten Weltkrieg wurde ein Fünftel der polnischen Bevölkerung ermordet. Meist von Deutschen.
Wittstock: Als sie nach Deutschland kamen, haben Sie die polnische Literatur hier bekannt zu machen versucht. Wie groß war die Resonanz auf Ihre Bemühungen?
Reich-Ranicki: Gar nicht so gering, aber sie ging bald wieder vorüber. Von meiner Anthologie „Sechzehn polnische Erzähler“ (1962) wurden zwei Auflagen verkauft. Doch das hat nichts daran geändert, dass es bis heute nur einen Polen gibt, der in Deutschland so bekannt ist wie die großen englischen und französischen Romanciers: Józef Korzeniowski. Der schrieb seine Bücher allerdings in englischer Sprache unter dem Pseudonym Joseph Conrad. Der beste Teil der polnischen Literatur ist aber die Lyrik. Und ausländische Lyrik ist nirgends wirklich populär. Zumal eine solche, die, wie die polnische, sehr schwer zu übersetzen ist.

Das Interview erschien in „Die Welt“ vom 26. April 2004.

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