Leselust

leselust176Ab in die Nische?

Über die neueste deutsche Literatur und was sie vom Publikum trennt

Die jüngere deutsche Literatur hat das Publikum verloren. Man kann das bedauern oder so gut es geht bagatellisieren – doch bezweifeln kann man sie nicht. Seit über zehn Jahren sehen sich fast alle Autoren deutscher Sprache, die ihren vierzigsten Geburtstag noch vor sich haben und deshalb gern jung genannt werden, mit einer schmerzlichen Tatsache konfrontiert: Von einem kleinen Kreis Eingeweihter abgesehen, interessiert sich für ihre Arbeit kein Mensch.

Das klingt böse, ich weiß. Aber das ist gut so, denn es sind böse Fakten, um die es hier geht. Seit Beginn der achtziger Jahre werden von einem Prosaband eines ernstzunehmenden Nachwuchsautors selten mehr als fünfzehnhundert Exemplare verkauft. Finden sich zweitausend Abnehmer, gilt das Buch als Erfolg. Sind es dreitausend, geraten Verleger und Lektoren in Verzückung wie fündige Goldgräber. Natürlich betrifft das nicht nur Romane oder Erzählungen. Im Gegenteil: Gedichte, Essays oder Theatertexte haben noch schlechtere Aussichten, annehmbare Auflagen zu erzielen.

Noch vor zwanzig Jahren, so erinnern sich glaubwürdige Veteranen des Branche, konnten Debütanten mit drei- bis fünfmal höheren Verkaufszahlen rechnen. Inzwischen scheint die Talfahrt zum Stillstand gekommen zu sein. Zumindest waren deutliche Rückgänge während der jüngst vergangenen Buchmesse nicht mehr festzustellen. Aber dies vielleicht nur deshalb, weil – wie ein Verleger anmerkte – es schwierig sein dürfte, derart niedrige Verkaufszahlen noch zu unterschreiten.

Das ganze Ausmaß des Desasters wird sichtbar, sobald man sich ein paar Vergleichsgrößen vor Augen stellt. Um einen der vorderen Plätze auf der Bestsellerliste zu erreichen, müssen von einem Titel rund fünf- bis sechshundert Exemplare pro Tag an die Leser gebracht werden. Das ist viel, trotzdem gelingt es Woche für Woche etlichen Büchern, denn schließlich gibt es einhundert Millionen Menschen, die das Deutsche ihre Muttersprache nennen. Jedoch nur ein- oder zweihundertstel Promille von ihnen lassen sich gegenwärtig für den Roman eines literarischen Newcomers gewinnen; in einer Großstadt wie Frankfurt also acht bis zehn – und das nicht pro Tag, sondern während der gesamten Jahre, in denen es lieferbar ist. Dieser Anteil ist so gering, daß er, bezifferte er den Blutalkohohlwert eines Autofahrers, nicht nur von keinem Polizeibeamten beanstandet würde, sondern kaum noch nachweisbar wäre. Wir können also – um im Bild zu bleiben – ziemlich sicher sein, daß unsere Gesellschaft durch die Werke ihrer jüngeren Dichter nicht so bald trunken werden wird.

Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich an zwei Selbstverständlichkeiten erinnern. Erstens: Diese tristen Tatsachen geben keinerlei Anlaß zur Häme. Schriftsteller sind alles andere als glücklich, wenn ihre Bücher eine sehr überschaubare Zahl von Käufern finden. Sie leiden, auch wenn sie es sich und anderen nicht eingestehen, vermutlich am meisten darunter und haben Spott nicht verdient. Zweitens: Ob das Publikum einem Autor seine Texte aus der Hand reißt, oder ob es sie mißachtet, sagt nichts, aber auch gar nichts über deren Qualität. Die Anekdoten über vortreffliche Werke, die sich als Ladenhüter erwiesen, sind ungezählt und wohlbekannt – sie müssen hier nicht noch einmal erzählt werden.

Der beklagenswerte Zustand, von dem die Rede ist, belegt nüchtern betrachtet nur eins: Zwischen denen, die schreiben wollen und denen, die lesen wollen, hat sich eine Kluft aufgetan, über die hinweg Verständigung immer schwieriger wird und immer seltener gelingt. Es ist wie bei einem altgestrittenen Ehepaar: Der eine redet noch, doch der andere hört schon lange nicht mehr zu. Natürlich darf sich ein Autor in der Rolle eines Rufers in der Wüste gefallen – aber kann sich das eine ganze Autorengeneration leisten? Da die Schriftsteller mit Sprache arbeiten, dem menschlichen Verständigungsmittel par excellence, ist es, milde formuliert, ein bedenkliches Symptom, wenn niemand mehr auf der Wellenlänge empfängt, auf der sie senden.

Das war nicht immer so. Von jenen Autoren, die in den fünfziger und sechziger Jahren ihre Karriere begannen, wurden einige sehr schnell, manche deutlich vor ihren vierzigsten Geburtstag, zu zentralen Gestalten des deutschsprachigen Literaturbetriebs: Dazu gehören (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Böll, Dürrenmatt, Ilse Aichinger, Arno Schmidt, Lenz, Grass, Frisch, Johnson, Peter Weiss, Martin Walser, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard; zu den jüngsten dieser Großen zählen die 1929 geborenen Kunert, Enzensberger, Rühmkorf, Christa Wolf und Heiner Müller; und als Nachzügler schließlich Peter Handke. Sie sind bis heute bestimmend für das Profil unserer Nachkriegsliteratur und immerhin so populär, daß selbst Nicht-Leser mit ihren Namen etwas anzufangen wissen (was im übrigen – auch das eine Platitüde – nichts über die Qualität ihrer Arbeit sagt). Acht von ihnen sind allerdings schon tot, und alle anderen, mit der Ausnahme Handkes, haben das sechzigste Lebensjahr geraume Zeit hinter sich.

So ist es wohl nicht verfrüht, sich nach dem Befinden des Nachwuchses zu erkundigen. Doch von denen, die in den siebziger und achtziger Jahren ihre literarische Arbeit begannen, kann man heute nur einen einigermaßen unumstritten zum ersten Rang der deutschsprachigen Literatur zählen: Botho Strauß. Natürlich haben neben ihm viele gute Schriftsteller viele gute Bücher geschrieben. Aber denen war eben nicht vergönnt, was gemeinhin der Durchbruch genannt wird, und besser als ein Ausbruch bezeichnet würde – einen Ausbruch aus dem esoterischen Zirkel der Kenner und Connaisseurs.

Natürlich ist, um das noch einmal zu betonen, Erfolg kein literarisches Gütesiegel. Aber Mißerfolg auch nicht, soviel steht fest. Die Epochen der Literaturgeschichte kannten in aller Regel beides, Publikumslieblinge und Mauerblümchen – und meist waren Talent und Unfähigkeit in beiden Lager anzutreffen. Wenn nun aber die einen über zehn, zwanzig Jahre ganz ausbleiben, wird es Zeit, sich Gedanken über die Gründe zu machen.

Schlechte Welt und gute Dichter

Die einschlägige Ursachenforschung zu diesem Thema bemüht, so weit ich sehen kann, regelmäßig fünf Thesen. Jede klingt sehr grundsätzlich, ihr kulturkritischer Gestus ist unverkennbar. Doch einer sachlichen Überprüfung halten sie meines Erachtens nicht stand. Erschwerend kommt ihr durchweg defensiver Charakter hinzu: Sie bemühen sich die Situation zu erklären und in ein finsteres Gesamtbild einzufügen, aber Auswege zeigen sie nicht. Sie bestätigen dem literarischen Nachwuchs in einem Atemzug wie bedeutend und wie hoffnungslos sein Tun ist, wie verdienstvoll und wie antiquiert – und unter der Hand empfehlen sie ihm, sich schleunigst auf die Suche zu machen nach einer, hoffentlich gut subventionierten Überlebens-Nische im Kulturbetrieb. Denn behaupten wird:

Erstens: Die Berufswelt ist so anspruchsvoll geworden, daß wir die Freizeit allein für die Reproduktion unserer Arbeitskraft brauchen. Für Literatur bleibt heute kein Raum mehr.

Dies ist, mit Verlaub, ein recht ehrwürdiges Argument, das mittlerweile gut sichtbar Staub angesetzt hat: Es steht allzu deutlich im Widerspruch zu der typischen Terminplanung unserer Freizeitgesellschaft, und die notorischen Besucher der Vergnügungspaläste hierzulande machen, einmal unvoreingenommen betrachtet, keinen entsetzlich ausgepowerten Eindruck. Neben der Studienreise in die Toskana, dem Spanisch-Kurs und den Weekends im Elsaß samt Weinprobe dürfte noch Platz für ein paar Bücher bleiben.

Zweitens: Andere Medien, vor allem die audiovisuellen, verdrängen die Bücher. Die Kulturtechnik des Lesens droht in Vergessenheit zu geraten.

Die eine Behauptung ist nachweislich falsch, die andere zumindest unwahrscheinlich: Noch nie wurden – Kabel-Fernsehen, Video und Computer zum Trotz – in Deutschland so viele Bücher gekauft wie im letzten Jahrzehnt. Da die Käufer ihr Geld wohl nicht ausgeben, um Autoren und Verlage uneigennützig zu unterstützen, dürfte es um die Kulturtechnik des Lesens so schlecht nicht bestellt sein.

Drittens: In unserer von instrumenteller Vernunft und vom Leistungsdenken beherrschten Zeit werden nur noch Sachbücher, Ratgeber oder Reiseführer gekauft, also Bücher, die nützlich sind und einen Zweck erfüllen. Auf den literarischen Titel dagegen bleiben die Verlage sitzen, denn die Kunst ist zweckfrei und deshalb für den modernen Konsumenten wertlos.

Träfe diese Annahme zu, müßten ohne Unterschiede immer weniger belletristische Titel gekauft werden. Doch auf den Bestsellerlisten tummeln sich munter Bücher amerikanischer, englischer, italienischer oder lateinamerikanischer Autoren – nur die Namen deutscher Schriftsteller sucht man dort meist vergebens, vor allem die der jüngeren. Außerdem ist nicht einzusehen, warum unsere vermeintlich so zweckrationale Gesellschaft nur der Poesie die kalte Schulter zeigen sollte, während andere, ebenso zweckfreien Künste doch offensichtlich florieren: Die Museen verzeichnen Besucherrekorde, die Galerien sind überfüllt, Opernhäuser und Konzertsöle haben auf Monate hinaus keine Karten mehr.

Viertens: Die Fähigkeit zur Konzentration über einen längeren Zeitraum hinweg geht verloren. In unserer reizüberfluteten Epoche kann zwar jedes Kind einem Video-Clip folgen, doch immer weniger Menschen finden Kraft und Ruhe ein umfangreiches Buch zu lesen.

Folgt man diesem Argument, müßten zur Zeit die knappen literarischen Formen, müßten Lyrik und Kurzprosa Furore machen. Das Gegenteil ist der Fall: Was den Buchhändlern stapelweise aus den Händen gerissen wird, sind fast ausnahmslos dickleibige Romane, mit selten weniger als drei- oder vierhundert Seiten, und denen widmen sich die Leser allem Anschein nach mit unerschöpflicher Konzentration.

Fünftens: Mit der Literatur ist es wie mit dem Kino: Erfolgreich sind in erster Linie triviale Produkte. Anspruchsvolle Werke haben gegen diese Konkurrenz kaum eine Chance. Mehr noch: Der Schund der Unterhaltungsindustrie kolonisiert unsere Phantasie in solchem Maße, daß der individuelle, noch fremde Ton eines neuen Autors von vornherein auf taube Ohren trifft.

Diese These hat immerhin die Tatsachen auf ihrer Seite. Jeder kann sich mit einem Blick auf die zitierten Bestsellerlisten davon überzeugen, daß dort vorwiegend Bücher notiert werden, mit deren Lektüre man bei seinem alten Deutschlehrer wenig Eindruck schinden dürfte. Trivialitäten, das liegt auf der Hand, haben es einfacher zu reüssieren als die hehre Kunst. Zugegeben, aber ist das nicht eine arge Binsenweisheit? Anders gefragt: War das nicht immer so? Ich fürchte, diese altbekannte Einsicht kann zur Klärung der spezifischen Probleme unserer zeitgenössischen Literatur wenig beitragen. Es sei denn, die Unterhaltungsindustrie (genauer: der mainstream der Unterhaltungsindustrie, denn auch die ist kein Monolith) hätte in den letzten Jahren einen solchen Einfluß entwickelt, daß neben ihr keine originelle, ungewöhnliche Schreibweise mehr Aussicht auf nennenswerte Resonanz hätte. Eine Spekulation solcher Größenordnung ist naturgemäß schwer zu bestreiten – aber auch schwer zu beweisen. Gegen sie spricht, daß in jüngster Zeit sehr wohl eigenwillige Schriftsteller wie Milan Kundera, Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Salman Rushdie Welterfolge erzielten.

Der resignative Grundzug der letzten, fünften These ist besonders Ärgerlich. Da niemand annehmen kann, die Unterhaltungsliteratur werde irgendwann einmal zugunsten der deutschen Nachwuchsschriftsteller verboten, können die das Argument letztlich nur als Aufforderung zum Rückzug in einen unter Kulturschutz gestellten Schmollwinkel verstehen. Dort dürfen sie sich dann angesichts ihres scheinbar übermächtigen Gegners zutiefst mißverstanden und als Opfer fühlen. Wer so etwas braucht, um sich in profanen Zeiten als Aristokrat des Geistes zu fühlen, dem sei es gegönnt. Aber notwendig ist das nicht. Die triviale und die, wenn man so will: seriöse Literatur existieren nebeneinander solange es Poesie gibt. Zwar ist die Kunst der Wahrheit verpflichtet und die Unterhaltung nur dem Erfolg. Dennoch haben beide Seiten immer wieder von einander gelernt und profitiert. Warum sollte das nicht auch heute gelingen? Was spricht dagegen, Erzählmuster routinierter Unterhaltungsautoren zu übernehmen, um etwas Besseres daraus zu machen?

Ein großer angloamerikanischer Romancier, der als Drehbuchautor genügend Erfahrungen – ich möchte betonen: genügend schlechte Erfahrungen – mit der Filmindustrie gesammelt hat, drückte es einmal so aus: „Ich glaube, die wirklich guten Leute haben unter allen Umständen ihren Erfolg; das bekannte ‚arm sein, aber schön’ ist höchstwahrscheinlich viel eher ein moralisches Versagen als ein künstlerischer Erfolg. Shakespeare hätte sich in jeder Generation durchgesetzt, weil er sich schlicht geweigert hätte, irgendwo im Winkel zu sterben; er hätte die falschen Götter angenommen und sie umgekrempelt; er hätte die gängigen Formeln übernommen und ihnen etwas abgezwungen, das geringere Menschen ihnen niemals zugetraut hätten. Lebte er heute, so würde er zweifellos Drehbücher schreiben und Filme, Stücke oder Gott weiß was sonst noch inszenieren. Statt zu sagen, ‚Dieses Medium taugt nichts’, würde er sich seiner bedienen und es dahin bringen, daß es etwas taugt. Wenn manche Leute manches in seinem Werk billig nennen (was manches auch ist), dann würde er sich einen Dreck darum scheren, weil er wüßte, daß es ohne eine gewisse Vulgarität keinen ganzen Menschen gibt. Das Gekünstelte und Verfeinerte als solches würde er hassen, denn es ist immer ein Rückzug, ein Zurückschrecken, und er war aus viel zu hartem Holz, als daß er vor irgend etwas zurückgeschreckt wäre.“

Pflicht zur Lust?

Den Ursachen für die Misere der jungen deutschen Literatur kommt man, glaube ich, mit den genannten Thesen nicht näher. Es hat wenig Sinn, die potentiellen Leser ernstzunehmender Bücher vor seichter Unterhaltungsware oder dem bösen Fernsehen in Schutzhaft nehmen zu wollen. Vermutlich sind es urteilsfähige Erwachsene, die sehr gut auf sich selbst aufpassen können. Sie wissen, wann sie trotz anspruchsvoller Arbeit einen anspruchsvollen Roman lesen möchten und wann sie bloße Zerstreuung vorziehen – und diese Entscheidung wird man wohl oder übel akzeptieren müssen.

Früher einmal ließ sich dieses Publikum einschüchtern durch einen pathetischen Kulturbegriff, der die ‚Dichtung’, vor allem die ‚deutsche’, zur Pflichtlektüre erklärte. Es gab einen literarischen Kanon, den kennen mußte, wer sich nicht als ungebildet belächeln lassen wollte. Diesem Kanon wurden neue, zeitgenössische Werke hinzugefügt. Doch das ist Schnee von gestern: Während der Studentenbewegung, spätestens mit dem Beginn der siebziger Jahre, jener merkwürdigen Scheidelinie in der Erfolgsgeschichte der deutschen Nachkriegsliteratur, erlosch jeder Glaube an irgendeine Pflicht zur Lektüre. Das geschah, nebenbei bemerkt, unter dem nahezu einhelligen Beifall der Schriftsteller. Seither gilt auf kulturellem Gebiet strikte Freiwilligkeit – von extremen Daseinsformen wie Schule und Studium einmal abgesehen. Gelesen wird, was gefällt und nicht, was Lehrer, Germanisten oder Rezensenten dekretieren.

Gewiß, manche Kritiker haben immer noch spürbaren Einfluß, doch sie verwandeln sich, ob sie es merken oder nicht, mehr und mehr von einer intellektuellen Instanz zu einer Art Vorkoster: Ihre Artikel werden, gleichgültig wie sie formuliert sind, nicht mehr als Analysen von Bildungsgut verstanden, sondern als Verbrauchertips, als Hinweise auf die Attraktivität eines Buches, auf seine Lesbarkeit und seinen Unterhaltungswert.

Natürlich ist das alles irgendwie bedauerlich. Natürlich kann, wer will, ein Lamento anstimmen über den Verfall der bürgerlichen Kunstbeflissenheit und unsere so unpoetische Epoche. Tatsächlich tun das viele, aber ich sehe keinen Sinn darin, mich ihrem Chor anzuschließen. Denn zum einen ist das Kind im Brunnen: Wer von unserer Gesellschaft einen anderen Umgang mit der Literatur fordert, träumt von einer anderen Welt. Er plädiert für eine Kulturrevolution, deren Eintreten ungefähr so unwahrscheinlich ist wie ihr Ausgang ungewiß. Sicher ist nur, daß sie blutig verlaufen würde. Zum anderen hat die aktuelle Situation sympathische Züge, die ich nicht missen möchte. Da sich niemand mehr zu irgendeiner ungeliebten Lektüre genötigt fühlen kann, wird zumindest im Bereich der Literatur die individuelle Freiheit respektiert. Unter diesem Aspekt betrachtet, betreibt die Gegenwart nicht die Zerstörung, sondern die Ziele der bürgerlichen Zivilisation.

Das Interesse für die Literatur ist keine Bringschuld der Leser – mit diesem Faktum muß rechnen, wer Bücher schreibt. Den Autoren bleibt also nichts anderes übrig, als das Interesse des Publikums für ihre Arbeit zu gewinnen. Niemand kann heute zur Lektüre verpflichtet, aber jeder darf zu ihr verführt werden. Man sollte sich das ruhig einmal bildlich vorstellen: An einem Winterabend lehnt sich ein einigermaßen gebildeter, gutwilliger Medienkonsument in seinem Sofa zurück, die Stehlampe brennt, die Zentralheizung rauscht leise, und vor ihm auf den Couchtisch liegen: ein sogenanntes ‚gutes’ Buch, ein ziemlich blutrünstiger Kriminalroman, die Tageszeitung, eine Illustrierte und der Spiegel, dazu noch die Fernbedienungen für den Videorecorder, den CD-Player und das TV-Gerät. Das ist, glaube ich, kein übertriebenes, eher eine recht alltägliches Szenario. Welche Chancen hat nun jenes ‚gute’ Buch, es stammt von einem jungen deutschen Schriftsteller, die Gunst seines Besitzers auf sich zu lenken? Es hat nur eine: Es muß ihm Vergnügen machen.

Vergnügen, philosophisch und special effects

Jedes soziale Milieu hat seine Reizthemen – natürlich auch der Kulturbetrieb. Behauptete man, Aufgabe der Literatur sei es, den Leser zu bilden oder zu bessern, die Grenzen der Kunst zu zerstören oder unsere zerstörerische Welt in die Grenzen zu weisen, erhielte man als Echo wenig mehr als ein müdes Murren. Wer aber hierzulande fordert, Literatur solle Vergnügen machen, darf mit sofortigem und wortreichen Widerspruch rechnen: Er könne die Literatur doch nicht, wird man ihm entgegenhalten, vorm Untergang in der Bedeutungslosigkeit gerettet werden, indem er sie in Trivialitäten ersäufe.

Um der scheinbar so hedonistischen These vorab eine gewisse Respektabilität zu verschaffen, möchte ich einen Gewährsmann zitieren, der nicht gerade als Hallodri der deutschen Literaturgeschichte gilt: Friedrich Schiller: „Wie sehr auch einige neuere Ästhetiker sichs zum Geschäft machen“, schrieb er vor fast genau zweihundert Jahren, 1791, „die Künste der Phantasie und Empfindung gegen den allgemeinen Glauben, daß sie auf Vergnügen abzwecken, wie gegen einen herabsetzenden Vorwurf zu verteidigen, so wird dieser Glaube dennoch, nach wie vor, auf seinem festen Grund bestehen und die schönen Künste werden ihren althergebrachten unabstreitbaren und wohltätigen Beruf nicht gern mit einem neuen vertauschen, zu welchem man sie großmütig erhöhen will. Unbesorgt, daß ihre auf unser Vergnügen abzielende Bestimmung sie erniedrige, werden sie vielmehr auf den Vorzug stolz sein, dasjenige unmittelbar zu leisten, was alle übrigen Richtungen und Tätigkeiten des menschlichen Geistes nur mittelbar erfüllen. (…) Spielend verleihen sie, was ihre ernsteren Schwestern uns erst mühsam erringen lassen; sie verschenken, was dort erst der sauer erworbene Preis vieler Anstrengungen zu sein pflegt. Mit anspannendem Fleiß müssen wir die Vergnügung des Verstandes, mit schmerzhaften Opfern die Billigung der Vernunft, die Freuden der Sinne durch harte Entbehrungen erkaufen oder das Übermaß derselben durch eine Kette von Leiden büßen; die Kunst allein gewährt uns Genüsse, die nicht erst abverdient werden dürfen, die keine Opfer kosten, die durch keine Reue erkauft werden.“ 2

Das klingt paradiesisch, aber Schiller ist Klassiker genug, um seine großen Worte gleich wieder klug einzuschränken. Er unterscheidet im Weiteren, wie er es in Kants Kritik der Urteilskraft gelesen hat, zwischen dem „Verdienst“ der Kunst, auf die beschriebene „Art zu ergötzen“ und „dem armseligen Verdienst, zu belustigen“ – und mit dieser Unterscheidung trifft er den Kern des Ganzen. Denn natürlich geht es nicht darum, eine Poetik der puren Vergnüglichkeiten zu propagieren – die würde Kant das nur „Angenehme“ nennen –, sondern es geht um eine Literatur, die Vernunft, Verstand und Phantasie der Leser ohne Begriffe auf lustvolle Weise befriedigt. Mit anderen Worten: Vergnügen zu erregen ist nicht Zweck der Kunst, denn Kunst dient keinen Zweck. Vergnügen zu erregen gehört vielmehr zu den Wesensmerkmalen der Kunst. (So wie ein Auto den Zweck hat, zu fahren, und der Motor eins seiner Wesensmerkmale ist.) Philosophisch sind die Fronten also ganz klar: Bei der Beschäftigung mit Kunst muß Spaß im Spiel sein oder die Kunst ist keine. Dass Kunstwerke darüber hinaus noch andere Qualitäten ihr eigen nennen, wird damit nicht bestritten.

Die Literatur, um zu ihr zurückzukehren, ist nämlich eine vielschichtige Angelegenheit. Jedes einigermaßen respektable Buch kann vom Leser nicht nur unter einem Blickwinkel, sondern unter zahlreichen, oft ganz verschiedenen Aspekten mit Gewinn betrachtet werden. Ein Schriftsteller muß folglich wie ein Jongleur ganz verschiedene Ziele gleichzeitig mit großer Präzision verfolgen können. Ein Ziel, das der Schriftsteller unbedingt verfolgen sollte, ist, Vergnügen zu bereiten; was er im übrigen auch, um Schiller ein letztes Mal zu bemühen, durch „tragische Gegenstände“ erreichen kann. Das ist schwierig, zugegeben, aber es hat auch niemand behauptet, daß es leicht sei, ein einigermaßen respektables Buch zu schreiben.

In diesem Punkt scheint es zur Zeit so etwas wie ein Denkverbot zu geben. Natürlich müssen Autoren heute, wie es in jeder zweiten Rezension heruntergebetet wird, den Ansprüchen moderner Ästhetik gerecht werden. Aber wer von ihnen es darüber hinaus noch versteht, seine Leser zu amüsieren, macht damit keinen Fehler. Im Gegenteil: Er ist anderen, denen das nicht gelingt, überlegen, denn er fügt seiner Arbeit eine wesentliche Dimension hinzu. Eine Dimension, die aus privaten Schreibexerzitien überhaupt erst Literatur macht.

Zum festen Glaubensbekenntnis unseres kulturellen Lebens gehört der Satz, daß ein Schriftsteller, der auf sich hält, während seiner Arbeit nicht an seine Leser denken dürfe. Dieses Gebot ist mit Sicherheit viel zu undifferenziert, als daß es einem Autor bei seinem sehr differenzierten Tun und Lassen hilfreich sein könnte. Gewiß muß es Sekunden, oder sogar Stunden geben, in denen er Gott und die Welt vergißt. Doch dann muß es auch Stunden geben, in denen er sich zumindest der Welt wieder erinnert. Um es paradox zu formulieren: Ein Schriftsteller sollte an sein Publikum denken und nicht an sein Publikum denken – und das möglichst gleichzeitig. Er muß sein Handwerk beherrschen und sich dennoch selbst überraschen können; und er muß sich, während er sich selbst überrascht, seines Handwerkes ganz sicher sein.

Neu ist das alles nicht. Betrachtet man jene großen Werke, die wir heute als klassische verehren, stellt man rasch fest, daß ihre Schöpfer das Vergnügen ihrer Leser selten aus den Augen verloren haben. Ein Autor, der einen Satz wie den Folgenden an den Anfang einer Erzählung stellt, verläßt sich offenbar nicht allein auf dem Bildungswunsch seiner Mitmenschen, sondern rechnet auch auf deren Sensationslust: „An der Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.“ Sicher, das ist ein ziemlich reißerischer Auftakt, aber die Schönheit und Genauigkeit von Kleists Erzählung beschädigt er nicht. Genausowenig wie jene Einleitung: „In M…, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O…, eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitung bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und daß sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten.“ Wer danach nicht bereit ist, weiter und bis zum Ende zu lesen, dem ist mit literarischen Mitteln nicht zu helfen.

Selbst ein angeblich so betulicher Erzähler wie Gottfried Keller benutzt auf der ersten Seite seines Grünen Heinrich einen veritablen Gruseleffekt, um unsere Nerven und Neugier zu kitzeln: Von einem harmlosen Dorffriedhof heißt es da, er bestehe „buchstäblich aus den aufgelösten Gebeinen der vorübergegangenen Geschlechter; es ist unmöglich, daß bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Körnlein sei, welches nicht seine Wanderung durch den menschlichen Organismus gemacht und einst die übrige Erde mit umgraben geholfen hat.“

All das ist kein Vorrecht abgetaner Epochen, auch Klassiker der Moderne arbeiten mit vergleichbaren Mitteln. Kafka zum Beispiel, um beim Anfangsbuchstaben K zu bleiben, den man so gern als unzugänglich, ernst und in sich versponnen apostrophiert, beginnt eine Geschichte mit den Worten: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“. Sollte irgendwann in Hollywood ein Drehbuch mit diesem Anfangssatz angeboten werden, könnten, vermute ich, Steven Spielberg und George Lucas unter den ersten Lesern sein. Denn Kafka hatte, zeitgemäß formuliert, einen gut entwickelten Sinn für special effects und deren Wirkung auf das Publikum.

Ein E für ein U vormachen

Die Frage nach den Gründen liegt nahe. Warum ist heute gerade in der deutschen Literatur die Neigung zum Unsinnlichen, die Freude an der Freudlosigkeit so groß? Weder in England noch in Frankreich, weder in Italien noch in Nord- oder Südamerika wird das Recht und die Pflicht der Schriftsteller, Vergnügen zu bereiten, mit soviel Mißtrauen beäugt wie hierzulande.

Vielleicht hat dieser literarische Sonderweg ähnliche Ursachen wie der fatale historische Sonderweg Deutschlands. Während sich unsere Nachbarländer im 18.Jahrhundert zu Nationalstaaten formten, litt das Heilige römische Reich deutscher Nation unter seiner inneren Zersplitterung und rang um Identität. Kultur und Sprache mußte die Klammer bilden, die den Bürgern politisch vorenthalten blieb. Zur Zeit der Weimarer Klassik gab es deutsche Kleinstaaten dutzendweise, aber nur einen Goethe. Den spielerischen Ambitionen der Literatur ist so etwas naturgemäß nicht zuträglich: Wer unter der Verantwortung ächzt, ein Land zusammenzuhalten, der hat es nicht leicht, frivole oder phantastische, komische oder groteske, ironische oder verspielte Bücher zu schreiben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Situation ähnlich. Politisch tief diskreditiert, richteten sich die Deutschen nur zu gern am Glanz ihrer großen kulturellen Tradition wieder auf: Dieses Volk hatte Hitler hervorgebracht, aber auch Thomas Mann. Wieder wurden von den Dichtern Belehrung, Ernst, Sinnstiftung und Würde erwartet, nicht artistisches Vergnügen. Daran mag es liegen, daß bei uns mit solch panischer Sorgfalt die E-Literatur von der U-Literatur geschieden wird, wobei die ernste, wie ihr Name schon sagt, ernst zu sein hat, und die andere als wertlos gilt. Eine skalpellscharfe Trennung, die ausländische Gäste oft den Kopf schütteln läßt, da sie beides nur als Pole des gleichen Ganzen kennen und dazwischen nur fließende Übergänge.

Hinzu kommt, daß die Jahre des Nationalsozialismus den Kontakt zur literarischen Avantgarde gründlich unterbrochen hatten – mit dem Ergebnis, dass in der Bundesrepublik die Experimente der klassischen Moderne verspätet, aber dafür um so gläubiger aufgenommen und nachbuchstabiert wurden. Spätestens seit dem Ende der sechziger Jahre gelten die ‚Irritation der Lesererwartung’, ‚formale Innovation’, ‚Anti-Realismus’ oder ‚Anti-Psychologismus’, und was dergleichen einschüchternde Floskeln mehr sind, als unanfechtbare Grundgesetze der Poetik. Da aber, was als unanfechtbar gilt, nur selten durchdacht wird, haben sich diese einst hilfreichen Begriffe inzwischen durch ungenauen Gebrauch in kaum mehr überbietbaren Maß abgenutzt. Sie wirken heute, so scheint es mir, vor allem negativ: Sie hindern Autoren und Rezensenten daran, auch nur simple handwerkliche Kriterien zu entwickeln, an denen sie sich orientieren könnten, um den eigenen Weg zu finden.

Natürlich werden jene Avantgarde-Theorien durch ihren Mißbrauch nicht widerlegt. Überhaupt lassen sich meines Erachtens literarische Konzepte nur schwer widerlegen: Jeder Schriftsteller zimmert sich halt seins zurecht, und es ist in der Regel exakt so gut oder so schlecht wie das, was er praktisch daraus macht. Ärgerlich sind nur jene dogmatischen Poetologien, die sich gern in Phrasen gefallen wie: ‚Nach Musil kann man nicht mehr schreiben wie Fontane’ oder ‚Seit Kafka ist der realistische Roman im Stil Thomas Manns obsolet’. Das ist im Grunde nur intellektuelles namedropping gemischt mit einem ins Ästhetische gewendeten Fortschrittsglauben, dem inzwischen auf ihrem Gebiet selbst hartgesottene Technizisten und Politiker abschwören.

Ein in jungen Jahren bereits erfolgreicher englischer Autor, Julian Barnes, hat diesem Thema einmal eine bedenkenswerte halbe Seite gewidmet. Zunächst erinnert er an Flauberts Satz: „In seinem Werk muß der Autor sein wie Gott in seinem Universum, allgegenwärtig und nirgendwo sichtbar“. Dann fährt Barnes fort: „Das hat man in unserem Jahrhundert natürlich heftig mißdeutet. Nehmen wir nur einmal Sartre und Camus. Gott ist tot, haben sie uns erzählt, und deswegen ist es der gottgleiche Romancier auch. Allwissenheit ist unmöglich, das Wissen des Menschen ist beschränkt, deswegen muß auch der Roman in seiner Perspektive beschränkt sein. Das klingt nicht nur toll, sondern dazu noch logisch. Aber ist es auch nur eins von beiden? Der Roman entstand schließlich nicht, als der Glauben an Gott entstand; und was das anlangt, so besteht auch kaum ein Zusammenhang zwischen den Romanciers, die am festesten an den allwissenden Erzähler glaubten, und jenen, die am festesten an den allwissenden Schöpfer glaubten…Noch genauer gesagt: Die angenommene Göttlichkeit des Romanciers im neunzehnten Jahrhundert war stets nur ein technisches Mittel; und die beschränkte Perspektive des modernen Romanciers ist ebenfalls ein Kunstgriff.“

Wer dieses Zitat als die kaum getarnte Aufforderung versteht, die Entdeckungen der Moderne gefälligst zu vergessen und unsere Literatur ausschließlich mit gottgleichen, allwissenden Erzählern zu bevölkern, der versteht das Ganze falsch. Sinn der Sache ist es nicht, ein Dogma gegen das andere auszutauschen, sondern den Blick freizumachen für eine einfache Regel – sie wird Voltaire und Wieland gleichermaßen zugeschrieben: Jede Art von Literatur ist erlaubt, außer der langweiligen.

Weiße Raben

Natürlich ist die Literatur nicht mehr das, was sie einmal war. Einer der klügsten deutschen Schriftsteller, Hans Magnus Enzensberger, hat der eigenen Branche in den letzten Jahren mehrfach bescheinigt, in welchem Maße ihre Geltung geschrumpft ist. Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, so resümiert er, habe die Literatur die Rolle eines sozialen Leitmediums übernommen. Aus Dichtern wurden Vordenker und Repräsentanten, und was sie schrieben, hatte den Rang öffentlicher Ereignisse. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Die Literatur, so Enzensberger, hat „ihre übergreifende Bedeutung eingebüßt“. Sie „ist frei, aber sie kann die Verfassung des Ganzen weder legitimieren noch in Frage stellen; sie darf alles, aber es kommt nicht mehr auf sie an.“

Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Die Analyse der Situation scheint mir vorbildlich und zutreffend. Nicht zustimmen kann ich jedoch der Schlußfolgerung, die Enzensberger zieht, und die für ihn ganz untypisch defensiv ausfällt: Literatur sei zu „einer minoritären Angelegenheit“ geworden, ihr Publikum „eine Minderheit von zehn- bis zwanzigtausend Leuten“ 5. Mit dieser scheinbar so bescheidenen, insgeheim so hochmütigen Beschränkung auf eine kleine, aber möglichst feine Gemeinde macht er es sich mit Sicherheit zu leicht.

Richtig ist, daß die Literatur bei uns und in fast allen industrialisierten Ländern ihre herausgehobene Rolle verloren hat. Aber das gilt auch für Amerika – dennoch wird die amerikanische Literatur in aller Welt gelesen. Folglich muß die schwindende Bedeutung als soziales Leitmedium nicht zwangläufig auch schwindende Popularität nach sich ziehen. Was, um ein anderes Beispiel zu nennen, ebenso der moderne Konzert-Betrieb belegt: Auch wenn Georg Solti der Gesellschaft nicht die Orientierung vorgibt, braucht er sich doch über mangelnden Zulauf nicht zu beschweren. Die Idee, die Arbeit eines Schriftstellers müsse, um auf Interesse zu stoßen, jederzeit irgendeine sozialtheoretische Relevanz nachweisen, scheint mir bereits eine sehr deutsche zu sein.

Tatsächlich sieht sich die Literatur in Konkurrenz gestellt zu einer Vielzahl anderer Medien, die heftig und zum Teil sehr erfolgreich um die Aufmerksamkeit der zahlenden Kundschaft buhlen. Doch die angemessene Reaktion auf die veränderte Lage kann nicht der beleidigte Rückzug in ein wie immer geartetes Getto sein. Die Literatur muß statt dessen die Konkurrenz aufnehmen, sie muß die Gegner, mit denen sie sich konfrontiert sieht, als Gegner akzeptieren und gegen sie ihre spezifischen Reize ausspielen. Wenn sie schon ihre ehemals übergroße Verantwortung los ist, wie Enzensberger schreibt, warum soll sie sich dann nicht ihrer verantwortungslosen Schönheit widmen? Die Literatur hat Anziehungskräfte, die ihr niemand nehmen kann und die durch nichts zu ersetzen sind. Doch müssen sie vom Schriftsteller mit Fingerspitzengefühl und Phantasie hervorgekehrt werden, mit Intelligenz und Witz, Geschick und Geschmack – mit Kunstverstand eben. Das sind, zugegeben, unwissenschaftliche Begriffe, aber Schönheit läßt sich eben wissenschaftlich nicht erklären.

Mit solchen Qualitäten präsentiert, verfehlt die Poesie auch heute nicht ihre Wirkung auf einen größeren Teil der Menschheit, wie man leicht feststellen kann, wenn man an einem beliebigen Tag eine beliebige Buchhandlung betritt. Stets findet man dort einige Titel, die gleich stapel- oder gar palettenweise angeboten werden. Natürlich sind darunter manche schlechten Bücher, aber immer auch ein paar lesenswerte – und gerade die müssen uns nachdenklich machen.

Solche weißen Raben hat es in den letzten Jahren auch in der neuen deutschen Literatur gegeben. Die Autoren waren nicht immer unter vierzig, als der Erfolg sie erreichte, aber wir wollen nicht kleinlich sein. Bemerkenswert ist, daß diese Schriftsteller den Mut hatten, sich einiger Themen anzunehmen, die hierzulande gern und pauschal der Trivialliteratur zugerechnet werden. Sie übernahmen die gängigen Formeln und zwangen ihnen etwas ab, was weit über die gängigen Ergebnisse hinausging, aber gleichwohl die Masse der Leser nicht ausschloß. So stürzte sich Sten Nadolny in die Elemente der Seeräuber- und Abenteuergeschichten und machte daraus seine Entdeckung der Langsamkeit (1983), Patrick Süskind entlieh sich für sein Parfüm (1985) die Kostüme des historischen Romans, Christoph Ransmayr näherte sich seiner Letzten Welt (1988) mit den Mitteln detektivischer Nachforschung und hinreißender sprachlicher Eleganz, und Christoph Hein verließ sich für sein Drachenblut (1982) ebenso wie Bodo Kirchhoff für seine Infanta (1990) auf die nimmermüde Kraft der Liebesgeschichten.

Nicht jedem wird jedes dieser Bücher gefallen. Das dürfte wohl nie einem Buch gelingen. Aber keines von ihnen ist banal und keines langweilig. Gründe genug, um von ihnen zu lernen.

Dieser Aufsatz erschien zuerst in „Neue Rundschau“ Heft 3/1993 und ging in das 1. Kapitel des Buches Leselust ein

Der Band ist zurzeit nicht im Buchhandel lieferbar. Er kann aber über das Moderne Antiquariat problemlos bezogen werden – unter anderem bei amazon.de.

„Die deutsche Gegenwartsliteratur gilt im Ausland als schwierig, humorlos, langweilig. Uwe Wittstock hat der Frage ‚Wie unterhaltsam ist die neue deutsche Literatur?’ ein Buch gewidmet und belegt darin, dass gerade die großen unter den Schriftstellern, was Volksbelustigung anging, nicht zimperlich waren.“ Der Spiegel

„Dem Befund Uwe Wittstocks: ‚Die jüngere deutsche Literatur hat das Publikum verloren’, ist nicht zu widersprechen. In der Konkurrenz mit einer Vielzahl anderer Medien, schreibt Wittstock, habe die neueste deutsche Literatur diese Gegner nicht ernst genommen und gegen sie eben nicht ihre spezifischen Reize, nämlich den Kunstverstand aus Intelligenz, Phantasie und Witz ausgespielt. Es mache einfach zu wenig ‚Vergnügen’, diese Bücher zu lesen, ‚unterhaltsam’ seien sie durchwegs nicht.“
Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau

„Wittstock ist einer der Querdenker in der deutschen Literaturkritik. Seine hier vorgelegten Analysen, zu denen auch überzeugende Studien zu von ihm geschätzten Romanciers wie Sten Nadolny und Ulrich Woelk zählen, sind die Lektüre wert und stehen dem amerikanischen Critisism mit seiner fairness und seinem common sens näher als das meiste, das wir aus den Federn seiner deutschsprachigen Kollegen und Kolleginnen kennen.“
Paul Michael Lützeler, The German Quarterly

„1993 wagte Uwe Wittstock, damals Lektor für deutsche Literatur beim S.Fischer Verlag, es offen auszusprechen: ‚Die jüngste deutsche Literatur hat das Publikum verloren.’ Und er plädierte für mehr Unterhaltungswert. Natürlich raste sofort die Literaturpolizei mit Blaulicht durch die Feuilletons, um den Delinquenten zu verhaften. Doch es nützte nichts. Nun war die bittere Wahrheit in der Welt und wollte nicht mehr verschwinden.“
Sven Boedecher, Die Woche, 29. Sept. 2000

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