Wolfgang Hilbig

hilbig_176Wegweiser ins Unwegsame
Zum Tode des Schriftstellers Wolfgang Hilbig

Von Uwe Wittstock

Wolfgang Hilbig wirkte zeitlebens wie ein Fremder, wie einer, der aus seiner Epoche und ihren üblichen sozialen Ordnungen gefallen ist. Er war als Lyriker und Erzähler ein Avantgardist in einer Zeit, in der die Garde längst anderen Vordenkern folgte. Er war ein mit hohen und höchsten Auszeichnungen überhäufter Autor, der dennoch nie populär wurde. Er war das Kind einer Bergmannsfamilie, das nur acht Volksschulklassen hatte besuchen dürfen, und das nie heimisch wurde im Milieu der Literaten und Intellektuellen, in das es ihn Kraft seines Talentes verschlug. Und schließlich: Er war in der DDR zum Schriftsteller geworden, deren Kulturfunktionäre ihn nach Kräften ignorierten oder schikanierten, bis er 1985 in der Bundesrepublik übersiedelte – doch konnte er seine Geburtsstadt Meuselwitz bei Leipzig nie hinter sich lassen. Jetzt ist Hilbig im Alter von 65 Jahren in Berlin gestorben.

Mitte der siebziger Jahre wurden seine ersten Gedichte im Westen publiziert, 1979 dann sein erster Lyrikband – was ihm in der DDR einige Wochen Untersuchungshaft und eine Geldstrafe einbrachte. Bald darauf erschienen auch ersten Prosaarbeiten, mit denen er sich rasch den Ruf eines Experten für literarische Verunsicherungen aller Art erwarb. Sein Augenmerk galt dem Ungewissen, sein Ehrgeiz dem Versuch, es zu formulieren. Seine Arbeiten sind Einladungen ins Bodenlose, sie gleichen Wegweisern ins Unwegsame. Wer ihnen folgt, darf darauf vertrauen, ein gründlich unvertrautes Reich zu betreten. Ein Reich, von dem sich in jedem Buch ein besonderer Aspekt enthüllt, das aber von Buch zu Buch durch gleiche Gesetze beherrscht wird. Hilbig arbeitete mit einer Vielzahl von Geschichten an einer umfassenden Geschichte, die als groß angelegter Angriff auf das gewohnte Bild der Wirklichkeit zu verstehen ist.

Die Welt, lautete eine der zentralen Überlegungen Hilbigs, ist nicht so, wie sie nach den üblichen „realistischen“ Übereinkünften zu sein scheint. Eine Literatur, die sich an diesen Übereinkünften orientiert, kam ihm deshalb vor, schrieb er in seinem Essay Über den Tonfall (1990), wie „eine vollkommen zweitrangige, wenn nicht drittrangige Sache“. Vom kleinsten Partikel bis zu ihren umfassenden Strukturen, vom einzelnen Wort bis zum übergeordneten Handlungsgefüge zielt Hilbigs Prosa darauf, die selbstverständlichen Gewissheiten seiner Leser aus den Angeln zu heben. Jede Ordnung wird allmählich unterminiert, jede Regel irgendwann torpediert. Hilbigs Einfallsreichtum kannte keine Grenzen, wenn es darum ging, bislang Vertrautes ins Zwielicht zu rücken und scheinbar Verlässliches verdächtig zu machen.

Seine Geschichten sind überzogen mit einem Netz von Vokabeln der Vagheit und des Ungefähren: Was immer seinen Helden durch den Kopf geht, es ist nur offenbar, vermutlich, scheinbar, möglicherweise so, wie es ihnen vorkommt. Allerdings hält Hilbigs Prosalandschaft auch zahllose Erscheinungen bereit, die es geraten sein lassen, den unmittelbaren Eindrücken nicht blindlings zu vertrauen. Sinnestäuschungen sind noch das Geringste, was seine Figuren in die Irre führt, sie werden von Trancezuständen, Visionen oder Halluzinationen heimgesucht, ja von Gespenstern und Spuk verfolgt, bis sie zwischen Traum, Wahn und Wirklichkeit nicht mehr unterschieden können, bis selbst Raum und Zeit jede ordnende Kraft für sie verlieren.

Tatsächlich lieferte die Welt, in der Hilbig aufwuchs, eine Menge Material für den Aufbau eines solchen literarischen Kosmos’ der Trugbilder und des permanenten Zweifels: Selbst Ortschaften und Landstriche sind im Braunkohlerevier um Meuselwitz nichts Verlässliches, sondern können verschwinden, können gigantischen Gruben Platz machen, die sich nach einigen Jahren wieder in Seen oder frisch begrünte Täler verwandeln. Auch die Kluft zwischen dem offiziellen Bild vom Leben in der DDR und den täglichen Wahrnehmungen ihrer Bürger sorgten zuverlässig für einen Eindruck von Mehrdeutigkeit und Ambivalenz. Und schließlich: Als die DDR so plötzlich vom Erdboden verschwand wie manches Dorf, dessen Fundamente auf Kohle gründeten, entpuppte sich im Nachhinein auch die politische und künstlerische Opposition gegen das sozialistische Regime als eine zuweilen doppelzüngige Schimäre. Nur folgerichtig, dass Hilbig dieses heimliche, verunsichernde Ineinanderübergehen von Stasi und Stasi-Gegnern zum Thema des Romans „Ich“ (1993) machte, der vielleicht sein bedeutendstes, mit Sicherheit aber sein am meisten beachtetes Buch ist.

Doch wer Hilbigs literarische Ambitionen allein im Hinblick auf solche politischen Erfahrungen betrachtete, würde ihnen nicht gerecht. Es ging ihm um weit mehr. Er war ein später Nachkomme jener Klassiker der Moderne, die seit Ende des 19. Jahrhunderts auf die zunehmenden Zweifel am konventionellen Bild von stabiler Subjektivität mit einem Abschied von den konventionellen literarischen Darstellungsformen reagierten. Zu den ironischen Pointen der künstlerischen Karriere Hilbigs gehörte es, dass er mit seinen ästhetischen Vorstellungen bei der sich fortschrittlichen wähnenden Kulturpolitik DDR auf entschiedene Ablehnung stieß, in Westen aber einem inzwischen bejahrten Begriff von Avantgarde so präzise entsprach, dass ihm zwar Literaturpreis um Literaturpreis zufiel, er aber das Publikum, das mit dem Modernismus von einst nicht mehr viel im Sinn hat, nie erreichte.

Bestechend sind bei alldem die musikalischen Qualitäten der Texte Hilbigs. Er verstand es, seinen oft ausufernden Satzarchitekturen einen suggestiven Rhythmus zu geben, der sich in Schleifen zu wiederholen und zu beschleunigen scheint, der wie die Prosa Thomas Bernhards um wieder und wieder variierte, gleichsam den Takt vorgebenden Signalbegriffe kreist, und so sich aufschwingt zu schwindelnd hohen und immer höheren Gipfelpunkten, die irgendwo auf einer haarfeinen Grenze liegen zwischen maßlosem Pathos und übersteigerter Ironie. Dieser Rhythmus, ungreifbar und doch offenkundig, der in den Lesungen Wolfgang Hilbigs einen dunklen, sächsisch gefärbten Klang annahm, war in seiner Sprachwelt, die von auswegloser Unbeständigkeit erzählte, ein letztes Moment von Beständigkeit.

Der Artikel erschien in gekürzter Form „Die Welt“ am 4. Juni 2007, Wolfgang Hilbig starb am Abend des 2. Juni 2007.

Uwe Wittstock (Hg.): „Wolfgang Hilbig. Materialien zu Leben und Werk“. Fischer Taschenbuch Nr.: 12253, Frankfurt am Main 1994. 
245 Seiten, 12,45 €
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