Bonus 1 und 2

Bonus 1
Der Herbst des Patriarchen

Für Väter gibt es 862 Möglichkeiten, ihren pubertierenden Söhnen Respekt einzuflößen. Ich habe mich für Jogging entschieden.
Jogging hat bekanntlich jede Menge Vorzüge: Es ist gesund und billig und unkompliziert und umweltschonend und blablabla… Für den Vater eines Zwölfjährigen zählt allein, dass Jogging ein Ausdauersport ist und Zwölfjährige wenig Ausdauer haben. Nicolas zum Beispiel fehlt es nicht an Kondition, sondern an Nervenkraft: Läuft er fünf Minuten, flammt mit jedem Schritt ein weiteres Langeweile-Alarmlämpchen in seinen Augen auf. Die entsprechenden Birnchen sind bei Erwachsenen vermutlich längst durchgebrannt während Weihnachtsfeiern, Elternabenden oder Peter-Handke-Büchern. Kein Risiko also, Nicolas zum Jogging-Duell zu fordern. Schon Sekunden nach dem Start war er sicher, das Gezockel unmöglich länger ertragen zu können: „Kann nicht mehr.“
Woraufhin die Stunde des respektheischenden Vaters schlug: „Komm Kleiner (!), wir sind doch gerade erst losgelaufen (!!).“
Was ihm selbstverständlich sofort den letzten Mut raubte. Allein, mit schlurfendem Schritt, gesenktem Kopf, hängenden Schultern trat er den Rückweg an. Für den Rest der Strecke nahm ich mir dann natürlich Zeit und schlenderte – außer Sichtweite – das eine oder andere Stück. Als ich eine Stunde später in gestrecktem Galopp durchs Ziel ging, brauchte ich nur was von neuer persönlicher Bestzeit zu schnaufen, und konnte mir seiner bewundernden Blicke sicher sein.
Das alles wirft, fürchte ich, kein gutes Licht auf mich. Ich weiß, man soll die Anerkennung seiner Kinder nicht durch Tricks erwerben, sondern durch vorbildliche Lebensführung. Amen. Dieses wahrhaft prachtvolle pädagogische Prinzip bringt allerdings einen Haufen Probleme mit sich. Um hier nur eins zu erwähnen: Vorbildliche Lebensführung ist extrem anstrengend. Weitaus anstrengender, als sich das kinderlose Erwachsene vorstellen, die in der Zeitung gerade mal eben gelangweilt die Familienkolumne durchgehen.
Ein anderes dramatisches Problem: Sind Söhne erst einmal zwölf, lernen sie haarsträubend schnell. Das bedeutet, die Tage, in denen der Vater bei der familieninternen Sportwertung den allseits erwarteten Spitzenplatz einnimmt, sind gezählt. Zu Ostern beispielsweise habe ich ein Tischfußball gekauft. Am Ostersamstag besiegte ich Nicolas serienweise 10:0. Am Sonntag 10:4 oder 10:6. Am Montag nahm er mich 5:10 auseinander – und gleich danach waren alle Bälle verschwunden. Ich wollte Revanche, kriegte aber keine Chance. Stundenlang habe ich sein Zimmer auf den Kopf gestellt: Nichts. Sein triumphierendes Grinsen verging ihm erst, als ich vorschlug, mal wieder zu joggen. Ich nenne das Notwehr.

Bonus 2
Bekannte Termine, gemischte Gefühle
Familien fühlen sich ja schnell mal isoliert. Deshalb ist es schön, wenn sich in der Weihnachtszeit rasend viele Leute um die Familien kümmern, damit sie nicht so alleine sind. Lennarts Schule zum Beispiel bittet gleich nach Erntedank, Halloween und Martinszug zum Adventskeksbacken. Danach dürfen die Eltern die Plätzchen auf dem Weihnachtsmarkt verkaufen und die Einnahmen der Schule spenden. Feine Sache, das.
Unvergeßlich auch die Weihnachtsfeier in Martens Sportverein. Knecht Ruprecht kam zu spät, so daß dreißig Jungs beim Warten mit Kuchen, Kerzen, Cola ein paar fabelhaft phantasievolle Sachen machen konnten. Bis das Vereinsheim aussah wie Tokio, nachdem Godzilla durchmarschiert ist. Alle Eltern waren hingerissen von Ruprechts Charme, als der dann mit großem „Hohoho“ reinstürzte und uns zuzwinkerte, er sei halt noch „ein Stündchen am Christkindl hängen geblieben, hähähä.“
Oder das jährliche Vorspielen von Nicolas’ Musikschule: natürlich in der Adventszeit. Dazu der Weihnachtsausflug von Lennart zum Kindertheater. Der Besuch von Martens Klasse auf dem Weihnachtsmarkt. Das Training fürs Krippenspiel. Der Glühweinabend im Elterntreff. Der Weihnachts-Lesenachmittag in der Schulbücherei. Der Advents-Gottesdienst von Nicolas’ Konfirmandengruppe.
Auch die Lehrer möchten zum Jahresende gern noch einmal alle Schäfchen um sich versammeln, weshalb Annette drei Elternabende zwischen die Adventssonntage in den Familienkalender an der Küchentür quetscht. „Wie schön“, sage ich zu ihr, „welche Freude, daß sie uns alle noch einmal sehen wollen vor dem Fest.“
„Einmal?“ fragte Annette. „Du vergißt den Vorbereitungsabend für die Ski-Freizeit von Nicolas. Und den Anti-Drogen Vortrag in Martens Schule. Und Lennarts Nikolausbasteln.“
„Wie fein. Die geruhsame Adventszeit, ich liebe sie. Könnten wir den Drogen-Vortrag nicht beim Glühwein hören? Wär gemütlicher.“
Annette schreibt die Termine auf schmale, lange Zettel und klebt sie in den Kalender, weil der längst zu klein geworden ist. Sie hängen an ihm runter wie Lametta am Tannenbaum. Unsere liebste Weihnachtsdekoration.
Wir beide stehen noch eine Weile vor den Kalender, ganz versunken in den Anblick des Termin-Lamettas. „Ich weiß nicht“, sage ich, „was Leute ohne Kinder in der Adventszeit machen.“
„Ja“, seufzt Annette, „sind bestimmt total vereinsamt.“
„Und um die Einsamkeit zu betäuben“, nicke ich, „müssen die mit Freunden in teuren Restaurants Essen gehen oder ins Kino oder zum Urlaub in der Karibik.“
„Da sehen wir mal“, meint Annette, „wie gut es uns geht.“ Dann lehnen wir uns noch einen Moment aneinander und atmen zum letztes Mal tief durch vor dem Spurt Richtung Heilig Abend.

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