Die Schrecken der Nächte und der Finsternis


Marten ist ein stilles Kind. Unser stillstes. Gestern ließ er die ganze Nacht nichts von sich hören. Es war herrlich. Bis er sein neunjähriges Patschhändchen auf unsere Schlafzimmer-Klinke knallte, gegen die friedlich schlummernde Tür sprang und neben dem Bett stand. So gegen drei Uhr früh. Kann sein, dass Annette und ich einen irgendwie beunruhigenden Eindruck auf ihn machten: Zwei aus den Kissen gerissene Köpfe, zwei schreckensblasse Gesichter, vier grauengeweitete Augen. Aber allem Anschein nach hat er bei unserem Anblick keinen Schaden genommen. Zumindest hat er sich nichts anmerken lassen.
„Gut, dass ihr wach seid“, freute er sich, „ich dachte schon, ihr schlaft noch.“
Marten drängte sich zwischen uns, unter beide Decken, wie immer wenn er nachts vorbeischaut. Allerdings nicht um weiterzuschlafen, sondern um sich zu winden und zu wälzen. Was soll er sonst auch tun, schließlich schmeißen wir alle Taschenlampen, Spielzeugsoldaten, Laser-Schwerter, Super-Soaker, die er für seinen Kampf gegen die Mächte der Finsternis braucht, aus dem Bett mit der lebensfremden Begründung, er habe nichts, absolut gar nichts zu befürchten. Lächerlich.
Menschen mit Kindern, dachte ich, während er mir sein Knie rhythmisch in die Rippen rammte, leben in einer anderen Welt als Menschen ohne Kinder. Auf unserem Planeten gilt beispielsweise eine ureigene Zeitordnung. Für jeden, der nicht gegen drei Uhr geweckt wird, wirkt es ein wenig seltsam, wenn Erwachsene noch vor der Tagesschau mit glasigem Blick in Richtung Bett schielen. Oder wenn sie im Theater schon während des ersten Aktes aufseufzend in den Schoß des Sitznachbarn sinken. Oder wenn sie sich als heute gut Vierzigjährige Sorgen machen über den Zustand der Rentenkassen im Jahre 2070.
„Du schnarchst“, brummte Marten und knallte mir seine Ferse gegen das Schienenbein. Ich drehte mich zur Seite und gab mir Mühe. Für Leute ohne Kinder, dachte ich, sind Tagesschau oder Theater ein Klacks, und was nach, sagen wir, 2040 kommt, kann ihnen schnurz sein. Alle Uhren gehen für sie anders. Und wenn sie doch mal müde sind, dann nicht, weil sie früh geweckt werden, sondern weil sie aus eigener Kraft die schönsten Schlafstörungen hinkriegen. So eine Schlafstörung muss dann von Schlaftherapeuten in Schlafkliniken kuriert werden. Und sie macht als Entschuldigung viel mehr her, wenn man mal wieder von den Kollegen während einer Konferenz mit dem Kopf auf der Tischplatte erwischt worden ist.
„Wie soll ich schlafen, wenn Du so’n Krach machst“, fauchte mir Marten ins Ohr. Ich rollte mich auf die andere Seite und atmte leis und sacht. Leute, dachte ich, die keine Kinder haben, können sich auch länger vormachen, sie seien noch jung. Eltern dagegen sehen rasch alt aus. Sind Söhne erst einmal zwölf wie Nicolas, machen sie ihrem Vater haarsträubend schnell klar, dass die Tage, in denen er bei der familieninternen Sportwertung den allseits erwarteten Spitzenplatz einnimmt, gezählt sind. Zu Weihnachten beispielsweise habe ich einen Tischfußball gekauft. Heiligabend erledigte ich Nicolas serienweise 10:0. Am ersten Weihnachtsfeiertag 10:4 oder 10:6. Am zweiten nahm er mich 5:10 auseinander – und ließ sofort alle Bälle verschwinden. Keine Chance auf Revanche. Stundenlang habe ich sein Zimmer auf den Kopf gestellt: Nichts, nur sein triumphierendes Grinsen.
„Du Schnarcher! Du bist einfach zu laut“, wütete Marten, robbte aus dem Bett und stapfte zurück in sein Zimmer. Annette lächelte dazu mit geschlossenen Augen, wie einst wohl die Steinzeitfrau ihren Steinzeitmann anlächelte, nachdem er den Bären aus der gemeinsamen Reihenhaus-Höhle vertrieben hatte. In diesem Moment kam ich mir sehr stark vor, Elternschaft hat eben auch schöne Augenblicke. Wenn man nur nicht so müde wäre.

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